Die modernen Bezeichnungen, mit denen viele Karatetechniken versehen sind, haben wenig mit ihrer beabsichtigten Funktion oder Anwendung zu tun. Diese Bezeichnungen sind erst vor relativ kurzer Zeit in der Entwicklung des Karate entstanden und haben ihren Ursprung in dem "verwässerten" Karate, das in den Schulen Okinawas Anfang des 20. Jahrhunderts geübt wurde. Vor dieser Zeit war keine einheitliche Terminologie für die einzelnen Karate-techniken in Gebrauch.
Ich bin der Meinung, dass die Anwendung einer Karatetechnik durch ihre Bezeichnung massiv eingeschränkt wird. Aufgrund der Benennung der Technik schliesst der Karate-Ka in der Regel auf deren, aus seiner Sicht, meistens einzigen Anwendung und lässt dabei andere ebenfalls mögliche Anwendungen nicht zu bzw. ausser Acht. Ein Karate-Ka, der nur ein Verständnis für das Schlagen, Treten und Blocken hat, wird Techniken und Bewegungen, zum Beispiel innerhalb einer Kata, auch nur als Schlag, Tritt, oder Block erkennen. Etwas Anderes kann, aufgrund seines Wissens, daher gar nicht in Frage kommen. Ein Praktizierender der Kampfkünste sollte sich deshalb nicht ausschliesslich von den Bezeichnungen der Karatetechniken leiten lassen und daraus die Anwendung ableiten.
Um sämtliche Anwendungsmöglichkeiten einer Karatetechnik entdecken zu können, muss man sich zunächst in einem ersten Schritt von der Bezeichnung der Technik lösen und sich auf ihre Form (Bewegung) konzentrieren.
Sodann sollte man immer im Hinterkopf behalten, dass eine Karatetechnik auch eine Block-, eine Hebel-, eine Würge-, eine Wurf- oder eine Schlagtechnik sein kann und dass eine einzige Karatetechnik mehrere Anwendungsmöglichkeiten hat.
Die Bücher der Stilbegründer, namentlich von G. Funakoshi, C. Miyagi, K. Mabuni sowie H. Otsuka, können diesbezüglich etwas Licht ins Dunkel bringen. Ausserdem lohnt es sich auch immer über den Tellerrand zu schauen und sich zum Beispiel mit Judo-Ka, Jiu-Jitsu-Ka, Kung-Fu Praktizierende oder Boxer etc. auszutauschen, was übrigens die Stilbegründer der vier grossen Karatestile (Shotokan-Ryu, Goju-Ryu, Shito-Ryu und Wado-Ryu) ebenfalls selber getan und ihren Schüler empfohlen haben. Schliesslich dürfen wir nicht vergessen, dass Karate ursprünglich eine Verteidigungsmethode für den Nahbereich (Nahkampf) war bzw. ist.
Wenn man auf diese Art und Weise Karate studiert, erlangt man einerseits ein tiefes Verständnis für die Technik und andererseits kommt man der Entschlüsselung der Kata einen grossen Schritt näher.