Funakoshi Gichin Funakoshi Gichin (jap.: 船越 義珍) ist als „Vater und Begründer des modernen Karate“ eine der wichtigsten und bedeutendsten Figuren in der Geschichte der japanischen Karate-Stile. Auch wenn er die okinawanische Kampfkunst der „leeren Hand“ keinesfalls selbst gegründet hat, ist es doch seiner Arbeit und seinem Engagement zu verdanken, dass sie als Sport ihren beispielhaften Siegeszug um die ganze Welt antrat. Während seines ganzen Lebens versuchte Funakoshi die traditionellen Lehren und Werte des karate-dō zu erhalten und zu unterrichten. Und er erkannte instinktiv, dass die neu enstandene Mentalität Japans mit seiner Forderung nach Wettkampf und Konsum der eigentlichen Bedeutung und den tatsächlichen Hintergründen des karate als Weg (dō) ein Ende bereiten würde. Leider ist die Kampfkunst, die heute mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird nicht seine eigene, sondern ein genaues Abbild dessen, was Funakoshi zu verhindern suchte.
Lehrjahre unter Azato und Itosu
Funakoshi Gichin wurde im Jahr 1869 auf Okinawa im Bezirk Yamakawa cho als einziger Sohn einer verarmten Samurai-Familie der damaligen Shizoku-Klasse (niederer Adel) geboren. Als Frühgeburt glaubte niemand ernsthaft daran, dass Funakoshi die ersten Jahre seines Lebens überstehen würde, und da die Erziehung eines sehr schwächlichen und kränklichen Kindes für die Eltern nahezu unmöglich gewesen wäre, gab man ihn zu seinen Großeltern in Pflege. Funakoshis Großvater Gifu war ein auf Okinawa bekannter konfuzianistischer Gelehrter, der einst die königliche Familie unterrichtet und im Gegenzug von der Regierung eine hohe Pension erhalten hatte. Doch hatte Funakoshis alkoholkranker und spielsüchtiger Vater Gisu dafür gesorgt, dass das Familienvermögen schon zu seinen Lebzeiten verschwendet worden war. Entgegen aller Erwartungen entwickelte sich Funakoshi Gichin jedoch zu einem normalen gesunden Jungen, der für sein Alter zwar immer recht klein blieb, aber dennoch robust und ungeheuer lebhaft war. Auch sein Großvater, der gemäß der alten Traditionen schon früh damit begonnen hatte, seinen Enkel in den vier großen klassischen Schulen der chinesischen Philosophie auszubilden, bemerkte bald wie talentiert und enthusiastisch sein Schüler war. Diese bereitwillige und offene Einstellung, die Funakoshi jeder Form des Lernens entgegenbrachte, sollte ihn während seines ganzen Lebens nie verlassen. Selbst kurz vor seinem Tod behauptete der spätere Kampfkunstmeister niemals, dass er seine Lehre abgeschlossen hätte.
Schon in frühen Jahren war Funakoshi Gichins Interesse in die Kampfkünste geweckt worden; was vermutlich seine Ursache mit darin hatte, dass sein Vater selbst ein fähiger Kämpfer im Umgang mit dem okinawanischen Stock und so wahrscheinlich in der Lage war, seinen Sohn in dieser Kunst auszubilden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis dem lerneifrigen Jungen seine bisherige Schulung nicht mehr genügte und er nach interessanteren Lehren zu drängen begann. Noch zu seiner Grundschulzeit kam der junge Funakoshi schließlich in Kontakt mit Azato Ankō, einem Meister des sagenumwobenen karate, den er darum bat, ihn als persönlichen Schüler aufzunehmen. Azato Ankō Peichin (Yasuzato) lebte von 1827 bis 1906 und gehörte einem der berühmtesten Samurai-Geschlechter Okinawas an. Als Tonochi (Gutsherr) bekleidete er hohe Ämter am königlichen Schloss und besaß ein großes Vermögen, das es ihm ermöglichte, nur einige wenige Schüler anzunehmen. Da sein Kampfkunstunterricht nicht seinem Lebensunterhalt dienen musste, war Azato nie öffentlich aufgetreten und hatte während seine ganzen Laufbahn als Karate-Meister, nur zwei karateka unterrichtet: Funakoshi Gichin und Ogusuku Chogo. Azato selbst war ein innerer Schüler (uchi deshi) Matsumura Sōkons , dem Gründer des matsumura ryū. Als einer seiner besten Schüler und inniger Freund Matsumuras erhielt Azato nach Jahren der intensiven Ausbildung eine Lehrerlaubnis von seinem Lehrer und durfte fortan eigene Wege gehen. Später begann Azato die gelernte Kunst nach eigenen Studien weiter zu verfeinern. Heute vermutet man, dass die Version des modernen Shōtōkan-Karate von Funakoshi Yoshitaka – dem Sohn des Meisters – eine starke Anlehnung an Azatos karate ist. Man erzählt sich, dass Azato einmal mit seinem Kampfstil den berühmten Schwertmeister des jigen ryū, Kirino Toshiaki besiegte.
In diesem denkwürdigen Kampf stellte sich der Karate-Meister mit bloßen Händen der scharfen Klinge des bekannten Schwertkämpfers gegenüber. Toshiaki, der für seine Unbesiegbarkeit und Furchtlosigkeit bekannt war, musste erstaunt feststellen, dass Azato der Schwertklinge kaltblütig auswich und ihn mit zwei gezielten Fauststößen zu Boden schlug. Als der Karate-Meister später zu diesem außergewöhnlichen Ereignis befragte, sagte dieser: „Toshiaki hat zu sehr auf seine eigene Stärke vertraut. Die Tatsache, dass er noch nie einen Kampf verloren hatte, machte ihn zu selbstsicher und schadete somit seiner Aufmerksamkeit. Wenn er mich genauer beobachtet hätte, wäre ihm aufgefallen, daß ich nicht wie seine bisherigen Gegener durch seinen Ruf eingeschüchtert war, sondern ihn im Gegesatz genau beobachtete, um die Schwäche zu entdecken, die ihm zum Verhängnis wurde. Das Wissen über die eigenen Stärken und Schwächen und die deines Gegners werden dich niemals verlieren lassen.“ Da Azato niemals in der Öffentlichkeit auftrat und nur zwei Schüler hatte, spielt er in der okinawanischen Kampfkunstgeschichte eigentlich nur eine kleine Rolle und es gibt über ihn nur wenig Aufzeichnungen. Doch war er ohne Zweifel der große „Meister im Schatten“. Die Kampfkünste mussten in der damaligen Zeit noch im Geheimen geübt werden, und jeder Meister verlangte von einem Schüler ehe er diesen aufnahm, grenzenlose Loyalität und Verschwiegenheit in der Übung seiner Kunst. Auch Funakoshi stand, nachdem er von Meister Azato als Schüler aufgenommen worden war, unter diesem Siegel der Verschwiegenheit. Seine Trainings fanden ausschließlich nur nachts im Garten seines Lehrers statt und dauerten oft bis in die frühen Morgenstunden. Meister Azato war ein unerbittlicher Lehrer, der seinen Schüler getreu nach dem Grundsatz hito kata san nen über mehrere Jahre hinweg immer wieder dieselbe kata üben ließ, und ihm erst dann eine neue Form zeigte, wenn er der Meinung war, dass die alte gut gemeistert wäre. So musste Funakoshi zum Beispiel über einen Zeitraum von zehn Jahren sein Training ausschließlich der Übung der tekki kata widmen, ehe der strenge Azato mit seinem Schüler zufrieden war. Nichts konnte den Meister von seiner Vorstellung des kata geiko abbringen, und sooft Funakoshi ihn auch drängte, ihm eine neue Form beizubringen, Azato blieb hart. Der Karate-Meister erinnert sich an jene Jahre als eine Zeit zurück, die ihm sowohl den bitteren Geschmack von Entbehrung und Demütigungen als auch die Bedeutung von gegenseitigem Vertrauen und Freundschaft lehrte: „Immer wieder, wenn ich meinen Meister fragend anschaute, waren die einzigen Worte, die er sagte ‚Nicht gut‘. und ich wußte, daß ich die Kata noch weiter zu üben hatte. In diesen Momenten empfand ich ein Gefühl tiefster Verbitterung und Erniedrigung, doch heute weiß ich, daß dies zu meiner Ausbildung gehörte.“
Immer wieder wies Meister Azato seinen Schüler an, „Betrachte deine Arme und Beine als Schwerter“, um seinem Schüler zu verdeutlichen, daß Hände und Füße im Karate tödliche Waffen sein können, deren Prinzipien in der Übung der Kata geschult und routiniert wurden. Nach dem rein körperlichen Training erhielt Funakoshi von seinem Lehrer oftmals zusätzlich Unterricht in der Psychologie und Philosophie des Karate. Ein angemessenes Benehmen, würdige Verhaltensformen und eine gut Beobachtungsgabe gehörten für Azato zur Essenz seiner Kampfkunst. „Das Geheimnis des Sieges,“ betonte er immer wieder, „ist, sowohl dich selbst als auch deinen Gegner genau zu kennen. Auf diese Weise wirst du niemals überraschend besiegt.“ Er selbst verfügte über ein detalliertes Wissen über alle bedeutenden Kampfkunst-Meister Okinawas, kannte ihre Stärken und Schwächen und konnte ihren Nemen und Wohnort nennen. Auch in der Politik war Azato sehr bewandert und Funakoshi bewunderte immer wieder den Scharfsinn und die Umsicht seines Lehrers in bezug auf zukünftige politische Veränderungen. So war Meister Azato zum Beispiel auch einer der wenigen seines Standes, der die unabänderlichen Veränderungen der Meiji-Reform anerkannte und befürwortete, indem er sich ohne zu Zögern seines Haarknoten entledigte. Auch lud sich Azato regelmäßig Freunde ein, mit denen er des Nachts, während Funakoshi draußen trainierte, über aktuelle Themen und Geschehnisse philosophierte. Einer dieser Besucher, der ebenfalls unter Matsumura Sōkon trainiert hatte und daher seit Jahren mit Anko Azato befreundet war, war Yasutsune Itosu. Nahezu jeden Abend verbrachte Meister Itosu in Azatos Haus, und wenn die beiden Meister nicht gerade in ernsthafte Gespräche vertieft waren, beteiligte sich Itosu an der Ausbildung Funakoshis, indem er ihm eigene Anweisungen gab. Yasutsune Itosu (die „heilige Faust des shuri te“) wurde 1830 in Shuri no Tobaru als Sohn eines samurai geboren. Im Alter von 16 Jahren brachte sein Vater ihn zu „Bushi“ Matsumura Sōkon, einem der größten Kampfkunstexperten des shuri te jener Zeit, um ihn durch die strenge Hand des Lehrers erziehen zu lassen. Matsumura unterrichtete nach shǎolínischem Vorbild einen kampfbetonten Kampfstil, und der junge Itosu musste acht Jahre lang unter seiner Anleitung hart und diszipliniert arbeiten. Nach dieser Zeit verließ er seinen Lehrer, um bei verschiedenen anderen Kampfkunst-Meistern Unterricht zu nehmen (unter anderen Shiroma Gusukuma aus Tomari, Nakahara und Yasuri, einem direkten Schüler Iwahs).
Die Erfahrungen und Fähigkeiten, die er durch die verschiedenen Kampfkunststile der Meister erhielt, ermöglichten es ihm schließlich, zu einem unbesiegbaren Kämpfer zu werden. Die eigentliche Lehre Matsumuras, die auch Azato erhielt, ging dabei jedoch verloren. Anstatt seinen Stil des Kämpfens auf Ausweichbewegungen zu basieren, betonte er seine Idee der starken Techniken und das Prinzip, dass der Körper jeden Schlag annehmen können muss. Matsumura sagte zu dieser Auffassung einmal: „Du kannst mit deinem Faustschlag alles niederschlagen, doch mich kannst du nicht einmal berühren.“
Tatsächlich gibt es jedoch über Itosus unheimliche Stärke viele Legenden. So soll er zum Beispiel mit bloßer Hand einen dicken Bambusstab zerquetschen können. Auch heißt es, dass Itosu einmal des Nachts aufwachte, weil er an seiner Haustür verdächtige Geräusche gehört hatte. Als der Meister an die Tür ging und nachschaute, was ihn in seinem wohlverdienten Schlaf störte, musste er erkennen, dass ein Dieb versuchte, sein Schloss aufzubrechen. Ohne viel Federlesens schlug Itosu mit seiner Faust durch das zentimeterdicke Holz der geschlossenen Tür und ergriff das Handgelenk des Einbrechers. Soviel dieser sich auch sträubte, es gelang ihm nicht, sich aus dem schraubstockartigen Griff zu befreien. Endlich lockerte der Karate-Meister seinen Griff und ließ den völlig erschöpften Mann frei. Auch war Itosu im Gegensatz zu Azato keineswegs wohlhabend. Und als 1879 der okinawanische König abgesetzt wurde, verlor Itosu seinen Posten als Privatsekretär des Monarchen. Da seine neue Arbeit als Beamter im Büro der Präfektur so schlecht bezahlt war, dass er freiwillig zurücktrat, war er gezwungen, seinen Lebensunterhalt von nun an mit dem Karate-Unterricht zu verdienen.
Nachdem er die meisten kata des shorin ryu in einem System konzentriert, sie überarbeitet, abgeändert oder vereinfacht hatte, begann er mit ihnen an die Öffentlichkeit zu treten. Seiner Meinung nach war „Karate eine Art zu leben, ein Weg, um absolute Sicherheit und Furchtlosigkeit zu erreichen. Ein Mensch, der die Kata übt, kann durch bestimmte Schwerpunktlegungen in ihnen seine individuellen Fähigkeiten bis zur äußersten Grenze verbessern.“ Diese wertvollen Inhalte, insbesondere der gesundheitliche Aspekt des Trainings, sollten laut Itosu nicht weiter geheimgehalten werden. Als er dann 1901 endgültig mit dem alten Tabu brach, indem er erstmals an der Grundschule Shuris karate unterrichtete, verärgerte er viele der alten Meister. Sie bezichtigten ihn des Verrats an den alten Traditionen und waren erbost, als es ihm 1905 mittles eines Briefes an das Erziehungsministerium endgültig gelang, karate als allgemeinen Schulsport in ganz Japan einzuführen. Nachdem karate Jahrhunderte lang im Geheimen nur ausgesuchten Schülern unterrichtet worden war, mussten seine Lehren nun der breiten Masse zugänglich gemacht werden. Viele Techniken mußten kämpferisch entschärft und sportbetonter werden. Die okinawansichen kata wurden zumgrößten Teil verfälscht und der Wert der Lehre verlor neben der Technik an Bedeutung. Obwohl dies nie Itosus Absicht gewesen war, legte er mit seinem Karate-Konzept den Grundstein für den heutigen Werteverlust der Kampfkünste. 1916 starb Itosu im Alter von 86 Jahren. Bis zu seinem Tod lebte er seine Idee des karate und seine Schüler berichten, dass er selbst im Alter von 80 Jahren eine Brust wie ein Fass, einen Körper wie Granit und Arme wie Säulen besessen haben soll. Trotz dieser vielen Gegensätze, die Meister Azato und Meister Itosu voneinander unterschieden, verstanden sich die beiden Lehrer jedoch prächtig. Der damals übliche Konkurrenzkampf und die Eifersucht, die zwischen den einzelnen Kampfkunstmeistern bestand, berührte keinen der beiden. Ganz im Gegenteil, immer, wenn sie sich in Azatos Haus trafen, unterhielten sie sich über die philosophischen Aspekte der Kampfkunst und schon nach kurzer Zeit, beteiligte sich auch Itosu an Funakoshis Unterricht. Zwar verbot Azato seinem wissbegierigen Schüler, an den Gesprächen teilzuhaben und wies ihn jedes Mal an, weiter seine kata zu üben, doch hatte Funakoshi in seinen 11 Lehrjahren bei Azato auch gleichermaßen eine Ausbildung in der Karate-Auffassung Meister Itosus erhalten.
Beruf und Familie
Die konservative Einstellung seiner Eltern bezüglich der Meiji-Reformen hatte Anfangs verhindert, dass Funakoshi sein Vorhaben, Medizin zu studieren, in die Realität umsetzte. Die Universität für Medizin in Tōkyō verbot das Tragen von Haarknoten, und so zwangen die Eltern ihren Sohn, den schwer erarbeiteten Studienplatz wieder aufzugeben. Doch Funakoshi erkannte bald, dass das Festhalten an den alten Privilegien nicht mehr zeitgemäß war, und so legte er im Jahr 1888 entegegen dem Willen seiner Eltern eine Prüfung zum Hilfslehrer an der Grundschule in Shuri ab. Als Lehrer und somit Beamteter der Regierung war Funakoshi selbstverständlich verpflichtet, seinen Haarknoten zu entfernen, und die schwer enttäuschten Eltern entschlossen sich, ihren Sohn zu enteignen. Doch war dies nicht der einzige bittere Tropfen, den Funakoshi nach seiner Etnscheidung Lehrer zu werden schlucken musste. Mit dem Beginn seines Unterrichts an der Schule in Shuri, musste sich der junge Lehrer schweren Herzens von seinen Meistern Anko und Itosu trennen. Die Distanz zwischen seinem Heimatort und Shuri war nun viel zu groß als dass er jeden Abend zu Azato gehen konnte, um unter ihm weiter zu trainieren. Da Funakoshi mit seinem Training jedoch nicht aussetzten wollte, bat er die Meister Matsumura Nabe und Kiyuna, die in der Gegend um Shuri wohnten um Unterricht.
Da die beiden Meister ebenfalls Schüler Matsumura Sokons gewesen waren, erhoffte er sich keinen allzu großen Unterschied in ihren Lehrmethoden. Lange Zeit war im Leben des jungen Funakoshi nun jede Minute vollständig verplant. Tagsüber verdiente er als Lehrer das nötige Geld für seinen Lebensunterhalt und des Nachts ging er zum Haus seiner Meister, um weite Karate-Unterricht zu erhalten. Derselbe Enthusiasmus, den Funakoshi in seinen Trainingen an den Tag legte, zeigte sich nun auch in seinem Berufsleben. Ungeachtet der wenigen Stunden an Schlaf, die er aufgrund seiner nächtlichen Traininge erhielt, engagierte er sich für seine Schüler und sorgte für seine eigene Weiterbildung. Schließlich konnte Funakoshi 1891 mit der Beförderung zum Hauptschullehrer eine weitaus besser bezahlte Stelle in einer Schule in Naha annehmen. Diese Beförderung war jedoch mit einer Versetzung nach Naha verbunden und so musste der junge Lehrer wiederum von seinen derzeitigen Lehrern Abschied nehmen. Nach kurzer Suche, konnte er jedoch in Naha sein Training unter der Leitung von Meister Higashionna (Toonno) Kanryō und Meister Aragaki (Niigaki) fortsetzten. – Trotz des Lehrerwechsels brach Funakoshis Kontakt zu seinen eigentlichen Meistern Azato und Itosu nie ab und auch seine Kampfkunst wurde wenn überhaupt nur geringfügig von den Lehren seiner nachfolgenden vier Lehrer geprägt. Bereits 1890 hatte Funakoshi sich entschlossen zu heiraten. Seine Frau war recht selbstbewusst und ihr großes Durchhaltevermögen half der Familie später oft, in Krisensituationen nicht den Mut zu verlieren. Gerade in den Jahren nach der Hochzeit, war es oft allein ihrer Standkraft zu verdanken, dass die zehnköpfige Familie Funakoshis (außer Funakoshi selbst und seiner Frau noch drei Söhne, eine Tochter, die Eltern und den Großvater) ausreichend ernährt werden konnte. Schon nach wenigen Wochen hatte sich nämlich herausgestellt, dass die so freudig erwartete Beförderung und das erhöhte Gehalt doch nicht so viel mehr an Geld einbrachte wie ursprünglich geplant, und so war seine Frau gezwungen, Gemüse anzubauen und Stoffe zu färben, um die finanzielle Situation zu verbessern. So schwierig die momentane Lage für den späteren Karate-Meister jedoch damals war, und so wenig Zeit er für persönliche Studien außerhalb der Schule und den familiären Verpflichtungen auch hatte, tat dies seiner Aufopferung im Karate keinen Abbruch.
Ganz im Gegenteil verstärkte Funakoshi seine Übungen noch und begann seine Familie bei jeder freien Gelegenheit, in die Kunst des karate einzuweisen. Er selbst schreibt, dass seine Söhne ihn bis zum Tod von Azato und Itosu oft zu seinen Besuchen bei seinen Lehrern begleiteten und selbst von ihnen Unterricht erhielten. Zwischen den Jahren 1901 und 1902 fand dann ein Ereignis statt, das Funakoshis weiteres Leben rigoros verändern sollte. Ein japanischer Schulkomissar aus der Provinz Kagoshima namens Shintaro Ogawa war von der Regierung nach Okinawa entsand worden, um dort den Bildungsstand der ansässigen Schulen zu überprüfen. Die Hauptschule Nahas, an der Funakoshi unterrichtete, war mit eine der Hauptstationen von Shintaros Inspektionsreise, und da man den Komissar gebührend empfangen wollte, sollte der Karate-Meister ihm zu Ehren eine kurze Demonstration seiner Kunst geben. Die jahrelang streng gehütete Tradition der okinawanischen Kampfkunstmeister, ihre Kunst nur im Verborgenen und ausgewählten Schülern zu unterrichten, hatte in den letzten Jahren aufgrund der Meiji-Reformen immer mehr an Aktualität verloren und es gab einige Meister, von denen man zumindest wusste, dass sie eine Kampfkunst betrieben. Auch Funakoshi hatte schon seit längerem damit begonnen, seine Traininge bei Tageslicht abzuhalten und kein streng gehütetes Geheimnis aus ihnen zu machen. Ganz im Gegenteil sah er den Besuch des Kommissars sogar als passende Gelegenheit, um die faszinierende Kunst des karate noch publiker zu machen - was ihm auch gelang. Shintaro Ogawa war von der Darbietung Funakoshis so begeistert, dass er in seinem Bericht an das japanische Kultusministerium die Kunst des karate hoch lobte, wiederholt dessen einzigartige Vorteile betonte und ausdrücklich empfahl, es in den Lehrplan des allgemeinen Sportunterrichts mit aufzunehmen. Tatsächlich erhielten die okinawanischen Schulen daraufhin nur wenig später die Weisung aus Japan, karate als Teil der Schulausbildung in den Unterricht zu integrieren. Zu diesem Zweck gründete Itosu die pinan (heian) kata. Bereits 1906 waren auf Okinawa öffentliche Demonstrationen im karate ein gewohnter Anblick und da kein Karate-Lehrer bis zu diesem Zeitpunkt mehr als zehn Schüler auf einmal ausgebildet hatte, stand die alte Tradition des Kampfkunstunterrichts zwischen einem Lehrer und seinem Schüler vor einer folgenreichen Neuerung.
Die alten Lehrmethoden mussten massentauglich gemacht und in einem zeitlich viel kürzerem Rahmen gehalten werden. Auch sah man sich gezwungen mehrere Techniken zu entschärfen, um die Verletzungsgefahr im und außerhalb des Sportunterrichts so niedrig wie möglich zu halten, und einen mehr sportlicheren Charakter in die Ausbildung einzubringen. Zu den anfangs wenigen Meistern, die diese Neuerungen im okinawanischen karate unterstützten gehörte neben Meister Funakoshi auch dessen Lehrer Itosu Yasutsune, der bereits vor Funakoshis Demonstration vor Ogawa mit einigen kleineren Karate-Darbietungen an zwei okinawanischen Schulen für Erstaunen gesorgt hatte. Nachdem schließlich beschlossen worden war, karate als Schulsport einzuführen, war es vor allem Itosu, der intensiv an der Entschärfung der Kampfkunst arbeitete. Um 1905 gründete er schließlich die fünf Pinan Kata, die in ihrem Ablauf die wichtigsten Bewegungsprinzipien und fundamentalen Techniken des shōrin ryū schulen sollten. Zwei Jahre später wurden die kata dann an allen Grundschulen Okinawas als grundlegende Basis des Karateunterrichts aufgenommen. Somit hatte sich das karate fast endgültig von seiner alten Tradition des Unterrichts im Verborgenen entfernt. Nicht nur an den Schulen, sondern auf ganz Okinawa waren öffentliche Kampfkunst Demonstrationen ein gewohnter Anblick geworden, und immer mehr Meister tauchten aus der Versenkung auf, um vereinzelte Darbietungen ihres Könnens zu geben. Doch wurde diese neu angebrochene Ära der okinawanischen Kampfkunst nicht nur mit Wohlwollen betrachtet. Vor allem viele alte Meister lehnten entschieden jeden Schritt an die Öffentlichkeit ab und warnten vor übereiligen Beschlüssen. Der erste Anfang für die weltweite Verbreitung des karate war jedoch schon längst getan und trotz vieler Proteste nicht mehr rückgängig zu machen. In den folgenden Jahren begannen sich immer mehr japanische Kampfkunstexperten für die so lange geheimgehaltene Kunst des karate zu interessieren, und angesichts der entspannten politischen Lage war es endlich möglich engere Kontakte mit Okinawa zu schließen. Meister Funakoshi spielte während dieser Zeit, in der Okinawas „Geheimnis“ endlich an Japan preisgegeben wurde, wohl mit eine der bedeutensten Rollen.
Neben seinem alltäglichen Leben als Hauptschullehrer bestand sein Tagesablauf fast ausschließlich aus dem Studium, dem Unterricht und der Vorstellung des karate vor anderen Kampfkuntexperten. Im Jahr 1913, nach dreißigjähriger Schullehrerzeit, hatte seine Kunst den Karatemeister schließlich so sehr in Beschlag genommen, dass er sich entschloss, auch um einer weiteren Versetzung in einen abseits gelegenen Schuldistrikt aus dem Weg zu gehen, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, um mit einer Demonstrationsgruppe durch Okinawa zu ziehen. Seine zahlreichen Darbietungen machten Meister Funakoshi schnell zum bekanntesten Karate-Meister Okinawas und gleichzeitig zu der Person, mit der man in Kontakt trat, wenn man etwas über diese Kunst erfahren wollte. Nach und nach wurden dann auch die japanischen Behörden und hochgestellte Mitglieder der japanischen Highsociety auf Funakoshi aufmerksam, und man entschloss sich 1916, den Karate-Meister zu einer Demonstration seiner Kunst nach Kyōto in den Butokuden einzuladen und damit den letzten Schleier dieses Geheimnisses zu lüften. Wie erwartet waren die Zuschauer, unter denen sich auch viele hochgestellte Persönlichkeiten befanden, von den Darbietungen und Erläuterungen des Meisters hochgradig begeistert, und der Ruf dieser sagenumwobenen und faszinierenden Kampfkunst verbreitete sich wie ein Lauffeuer innerhalb der japanischen Bevölkerung. Nachdem Funakoshi mit seiner Demonstrationsgruppe schließlich auch am 6. März 1921 mit seiner Darbietung zu Ehren des japanischen Erbprinzen und späteren Kaiser (tennō) Hirohito, der zu Besuch auf Okinawa war, für wahre Begeisterungsstürme innerhalb der Bevölkerung gesorgt hatte, wurde der Regierung des Festlandes klar, welche Bedeutung die Kampfkünste für die Massen hatte. Als Schule der Disziplin und des Gehorsams schien karate die ideale Ausbildung für das Volk eines Landes, das am Anfang des Imperialismus, der militärischen Macht und des Nationalismus stand. Daher sollte die japanische Regierung später auch nach der Einführung des karate auf dem Festland mit Hilfe des Butokukai dafür sorgen, dass die eigentlichen Meister im Unterricht dieser Kunst ihrer Selbständigkeit beraubt und dem Einfluss der politischen Ziele unterstellt wurden.
Funakoshi in Japan
Das Interesse der japanischen Regierung an den okinawanischen Kampfkünsten und speziell natürlich am karate hatte sich nach Funakoshis aufsehenserregenden Demonstration vor Erbprinz Hirohito beträchtlich gesteigert. Und da die momentane politische Lage einen engeren Kontakt zwischen dem Festland und der Insel geradezu erforderlich machte, beschloss man 1921 kurzerhand, in Tokyo eine große Kampfkunstgala mit Demonstrationen aus allen Stilen Japans abzuhalten, zu der auch eine Delegation des Okinawa Shobukai Shôbukai (okinawanische Kampfkunstorganisation) eingeladen werden sollte. Lange Zeit war man sich in Okinawa nicht sicher, ob man dieses Angebot annehmen sollte, da man schon einmal mit dem Versuch, das karate außerhalb Okinawas zu verbreiten, kläglich gescheitert war. Doch waren viele der Karate-Meister der Meinung, dass man diese Vorführung als Gelegenheit benutzen könne, die Kunst „als Botschaft des Friedens“ in Japan vorzustellen, um sie auf diesem Weg in der Welt zu verbreiten. Nachdem die Entscheidung schließlich gefallen war, suchte man nun einen Karate-Meister, der Okinawa und seine Kampfkunstkultur würdig vertreten könne. Die erste Wahl des Shobukai fiel auf Motobu Choki, einen okinawanischen Meister, der sich vor allem wegen seiner ausgezeichneten kämpferischen Fähigkeiten einen großen Namen gemacht hatte. Man war sich sicher, dass Motobu mit einer seiner spektakulären Kumite-Demonstrationen sowohl das Publikum begeistern, als auch vor möglichen Herausforderungen gefeit sein würde.
Unglücklicherweise war der okinawanische Kampfexperte den Japanern nicht gerade sehr wohlgesonnen und lehnte alles rigoros ab, was auch nur im entferntesten etwas mit Japan zu tun hatte. Auch mit Meister Funakoshi lebte Motobu zu dem damaligen Zeitpunkt auf dem Kriegsfuß, was sich einige Jahre später sogar zu einer offenen Feindschaft von seiten Motobus entwickeln sollte. Die Art und Weise wie Funakoshi das okinawanische Karate veränderte und in Japan unterrichtete, betrachtete Motobu (und mit ihm später auch viele andere okinawanischen Karate-Meister) als Verrat an den traditionellen Prinzipien des Karate. Immer wieder versuchte er, Funakoshis Bemühungen in Japan anerkannt zu werden, zunichte zu machen, indem er die fehlende Kampfkraft von Funakoshis entschärftem Karate anprangerte oder ihn aufgrund seiner Beziehungen zu japanischen Budō-Meistern (vor allem zu Kanō Jigorō) verurteilte. Tatsächlich hatte es sich Motobu zur Gewohnheit gemacht, japanische Budō-Meister zum Kampf herauszufordern, um ihre Kompetenz zu testen – dies hielt er für den einzig richtigen Weg der Verbreitung des Karate - und in der Tat verlor er keinen einzigen Kampf. Nachdem trotz seiner ständigen Interaktionen Funakoshis karate schließlich doch durch den Butokukai in Japan anerkannt worden war, kehrte Motobu 1938 enttäuscht nach Okinawa zurück. Angesichts der so großen Abneigung Motobus gegen Japan, die sich teilweise sogar bis zum blanken Hass steigerte, kamen die Mitglieder des Shobukai schnell darin überein, dass Motobu trotz seiner Fähigkeiten nicht der geeignete Mann für eine Repräsentation Okinawas sei. Schließlich fiel die Wahl nach langen Meinungsverschiedenheiten auf Meister Funakoshi Gichin. Zwar war dieser in technischer Hinsicht nicht herausragend, doch garantierten sein edler Charakter und seine ausgezeichneten rhetorischen Fähigkeiten einen würdigen Auftritt in Tōkyō. Zudem war er auch ein Meister der Kalligraphie und Dichtkunst, wusste mit der japanischen und chinesischen Sprache und Philosophie umzugehen und kannte die okinawanische Kultur bis ins Detail.
Kurz um, Funakoshi war ein demütiger, gebildeter und kultivierter Mensch, der mit Sicherheit ein gutes Bild abgeben würde und dies war den Okinawanern besonders wichtig. Da eine jahrhundertealte Feindschaft immer noch die Beziehung beider Länder belastete, sollte diese Preisgabe der geheimen Kampfkünste an Japan einem Friedens- und Freundschaftsangebot gleichkommen. Die Demonstration selbst fand in Ochanu-mitsu in Tōkyō statt und sollte eine ganze Woche dauern. Alle japanischen Budō-Disziplinen waren vertreten und mit ihnen viele der japanischen Kampfkunstmeister, die mit kritischem Blick der Darbietung Funakoshis folgten. Doch seine dynamischen Techniken und illustrierten Vorträge hatten am Ende jeden in ihren Bann gezogen. Einer der Teilnehmer und Zuschauer an diesem Kampfkunstspektakels war Kanō Jigorō, der sich vor allem für die Atemi Techniken des okinawanischen karate interessierte. Die Vorstellung Funakoshis begeisterte ihn derart, dass er den Meister anschließend in den Kōdōkan einlud und ihn bat, die Prinzipien seines karate näher zu erläutern. Kanō hatte schon einige Jahre zuvor mit Funakoshi Kontakt aufgenommen und ihn gefragt, ob er am Kōdōkan unterrichten wolle, doch der Meister hatte damals abgelehnt. „Ich befinde mich selbst noch im Lernprozeß“, hatte er zurückgeschrieben. Dieses Mal willigte Funakoshi jedoch ein, und er nahm als Assistenten Gima Makoto Shinkui mit, einen seiner ersten und später bester Schüler. Mit einiger Skepsis, aber in dem festen Glauben, dass sie nur vor einigen wenigen Jūdō-Lehrern eine kleine vorstellung ihrer Kampfkunst geben sollten, gingen die beiden zum Kōdōkan. Als sie dort eintrafen, mussten sie jedoch feststellen, dass Kanō an die 220 Zuschauer eingeladen hatte, die alle etwas über das sagenumwobene okinawanische Karate erfahren wollten. Angesichts der Tatsache, dass so viele Menschen gekommen waren, um bei der Demonstration zuzuschauen und da der Kōdōkan damals eine Schlüsselposition im japanischen budō einnahm, war sowohl Funakoshsi als auch Gima nicht mehr sehr wohl bei dem Gedanken an ihren bevorstehenden Auftritt. Doch nachdem sie ihre kurze Darbietung vor einem bgeisterten Publikum beendet hatten, verbreiteten sich die Berichte über diese außergewöhnliche Kampfkunst Okinawas wie ein Lauffeuer in ganz Tōkyō. In einem Interview meinte Gima dazu: „Als ich mit Funakoshi Sensei im Kodôkan ankam, waren dort nicht nur die Jûdô-Instruktoren und Kanô Jigorô, sondern auch etwa 80 Mitglieder des Tominshinsoku Kodôkan-Zweiges.
Insgesamt waren es über 200 Menschen, die sich für die Demonstration zusammengefunden hatten. Wir waren beide tief beeindruckt und etwas aufgeregt, weil man den Kodôkan als Mekka des japanischen Budô betrachtete. Kanô Sensei war sehr eifrig darum bemüht, näheres über Karate zu erfahren, und er stellte so detaillierte Fragen, daß Funakoshi Sensei manchmal Schwierigkeiten hatte, sie zu beantworten. Ich glaube es lag an unserer Demonstration im Kodôkan, daß Karate später in Japan eingeführt werden konnte. Die Tatsache, daß Kanô Sensei Karate anerkannte, öffnete dem Karate Tür und Tor für die gesamte japanische Budô-Welt. Danach veranstalteten Funakoshi Sensei und ich Karate-Vorführungen im Hekki-Stukan Dôjô des Yagyû-ryû, im Neihaido-Taisojuku und im Haus des alten okinawanischen Königs in Tôkyô. Ich erinnere mich, daß wir auch das Haus von Professor Tomari Shinju von der Keio-Universität besuchten, der auch eifrig daran interessiert war, etwas über Karate zu erfahren. Unter denen, die uns unterstützten, waren vor allem Kanô Jigorô, der Jûdô-Begründer, Nakayama Hiromachi, der berühmte Kendô-Meister, Yashiro Yakuro, der Vizeadmiral der japanischen Flotte, und der Baron Shimpei.“ Tatsächlich war Funakoshi Kanō über dessen anfängliche Hilfen und die große gegenseitige Freundschaft, die die beiden später verband, so dankbar, dass er sich auch nach dem Tod des Jūdō-Meisters immer in Richtung des Kōdōkan verbeugte, wenn er daran vorbeikam. Seiner Meinung nach stach Kanō besonders in seinem Charakter und in seiner menschlichen Größe aus der normalen Gesellschaft hervor. Nachdem die Festivitäten anläßlich der Budō-Gala beendet worden waren und Funakoshi noch einige Zeit mit Kanō verbracht hatte, war es für den Karate-Meister an der Zeit, nach Okinawa zurückzukehren. Entgegen aller Erwartungen entschloss sich Funakoshi jedoch, in Japan zu bleiben und sich der Verbreitung des karate zu widmen. Noch in den nächsten Tagen schickte er nach seiner Frau und bat sie, ihm nach Tōkyō nachzureisen. Doch da sie in Okinawa einerseits für ihre Familie sorgen musste und andererseits fest an die alten Traditionen und Bräuche gebunden war, weigerte sie sich, ihrem Ehemann zu folgen. Warum Funakoshi dennoch trotz schlechtester Bedingungen und völlig alleine einen Neuanfang auf dem Festland begann ist nicht bekannt. Später behauptete er, einige interessierte Menschen hätten ihn um Karate-Unterricht gebeten, doch tatsächlich hatte der Karate-Meister in den ersten Jahren stets um Schüler kämpfen müssen. Sicher ist, dass Funakoshis Abschied von Okinawa ein Abschied für immer werden sollte, da er nie mehr in sein Heimatland zurückkehrte. Wessen sich Funakoshi zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig bewusst war, war die Tatsache, dass eine Kampfkunst in der damaligen Zeit nicht ohne weiteres in Japan eingeführt und populär gemacht werden konnte.
Der Dai Nippon Butokukai, eine Institution, die 1895 von der Regierung gegründet wurde, um die verschiedenen Kampfkunststile zu kontrollieren und standadisieren, lehnte jede Kampfkunst ab, die sich ihm nicht anschloss und sprach ihr den offiziellen Charakter ab. Jeder Kampfkunstmeister, der einen Stil in Japan verbreiten wollte, musste daher dem Butokukai angehören, um sich in der Gesellschaft etablieren zu können. Damit hatte sich der Meister in seinen Lehren jedoch auch den sportlichen Regeln dieser Institution zu unterwerfen, was Funakoshi verständlicherweise in Bredouille brachte. Seine traditionellen Lehren vertrugen sich in fast keinem Punkt mit den Wettkampfprinzipien des Butokukai und mussten folglich wohl oder übel diesen angepasst werden, was der Karate-Meister letztendlich auch tat. Die ersten Monate sollten für Funakoshi eine der größten Herausforderungen seines Lebens werden. Da Okinawa jahrhundertelang an das Festland Abgaben leisten musste, waren die Inselbewohner in den Augen der Japaner Menschen zweiter Klasse. Besonders in Tōkyō war dieser Rassismus stark ausgeprägt und man sah voller Verachtung auf alles herab, was okinawanischen Ursprungs war. Zu dem Problem dieser Anfeindungen seitens der Tōkyōer Bevölkerung, gesellten sich für den Karate-Meister noch erhebliche Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche. Eine unheimlich große Zahl von Einwanderern strömte zu dieser Zeit in das neuaufblühende Japan und vor allem Tōkyō wurde geradezu von Ausländern überschwemmt. Schließlich gelang es Funakoshi jedoch, sich im Meiso-juku, einem Wohnheim für okinawanische Studenten im Suidobata-Bezirk Tokyos, einen kleinen Raum sichern. Die Miete für diese winzige Zimmer betrug 10 Yen, doch da der Karatemeister zu dem Zeitpunkt noch keine Schüler besaß, musste er sich das Geld durch verschiedene Hilfsarbeiten verdienen, die im Wohnheim anfielen. Er arbeitete als Pförtner, Platzhalter und Nachtwächter und musste dennoch dem Koch der Herberge Karate-Stunden als Tausch für sein tägliches Mittagessen anbieten. Schließlich war er sogar gezwungen, die wenigen Wertgegenstände, die er besaß, zu verpfänden. Der erste „Schüler“, der in das Meiso-juko kam, um von Funakoshi Karate zu lernen, war Ōtsuka Hironori, ein hochrangiger Jūjutsu-Lehrer des yōshin ryū.
Der dreißigjährige Jūjutsu-Meister hatte sich schon immer für die Kunst des Karate interessiert und wollte ursprünglich gerade zu der Zeit, zu der Meister Funakoshi seine Demonstration in Japan gab, nach Okinawa reisen, um dort einen tieferen Einblick in das Karate zu erhalten. Selbstverständlich ließ sich daher Otsuka diese einmalige Gelegenheit, einen Karate-Meister bei der Darbietung seines Könnens zu erleben, nicht entgehen und sog die Infromationen, die der Meister während seiner Vorführung gab, geradezu in sich auf. Völlig fasziniert von dem Können Funakoshis entschloss sich Otsuka schließlich, mit dem Karate-Meister Kontakt aufzunehmen, und ihn um Unterricht zu bitten. Schon bei dieser ersten Bekanntschaft erzählte Otsuka später, sei ihm das „überraschend offene, freimütige und sogar geradezu unschuldige“ Wesen Funakoshis aufgefallen, das sich auch in seinen späteren Jahren nie ändern sollte. Unglücklicherweise musste der Karatemeister ihn zu diesem Zeitpunkt als Schüler jedoch ablehnen, da er noch keine anderen Schüler, geschweige denn geeignete Trainingsmöglichkeiten besaß. Erst im Juli 1922 gelang es Funakoshi, eine kleine Gruppe von Schülern um sich zu versammeln, die über Mund-zu-Mund Propaganda von ihm erfahren hatten. Der Leseraum des Meiso-juko diente ihm als provisorisches dōjō und nach und nach kamen immer mehr Schüler, die vom Hörensagen von ihm erfahren hatten. Der Leiter des Wohnheims erfuhr jedoch schnell von dieser neuen Einnahmequelle Funakoshis und setzte sofort dessen Miete auf 15 Yen herauf. Funakoshi ließ sich davon jedoch nicht beirren, sondern fuhr neben seinem Karate-Unterricht damit fort, sich mit unangenehmen kleinen Hilfsarbeiten etwas dazu verdienen. Otsuka gehörte während dieser Zeit bereits zu den wichtigsten Schülern Funakoshis. Seine Vorkenntnisse im als Jūjutsu-Meister gestatteten es ihm, innerhalb kürzester Zeit die Prinzipien des Karate zu lernen und umsetzen zu können . Schon bald sollte Otsuka in seinen Techniken so ausgereift sein, dass er Funakoshi auf jede seiner Demonstrationen begleiten und ihn als Assistenzlehrer unterstützen konnte.
Einige Jahre später begann zum großen Leidwesesn Funakoshis Otsuka jedoch, das gelernte Karate nach seinen Erfahrungen im jūjutsu weiterzuentwickeln. Immer wieder startete er Versuche, die Übung des Kumte stärker herauszustreichen und diese Neuerungen im Shotokan einzuführen. Verständlicherweise stieß dies nach und nach immer stärker auf den Widerstand der anderen Schüler und Übungsleiter Funakoshis, die sich zunehmend über Otsukas eigenwillige Unternehmungen zu beschweren begannen. Zwischen 1930 und 1931 sollte die Abneigung der engsten Schüler um Funakoshi gegen Otsuka schließlich so groß werden, dass dieser seinen Meister verließ, um drei Jahre später einen eignen Stil zu gründen, der Elemente des shōtōkan, motobu yu und shindo yoshin ryū miteinander verknüpfte, das wadō-ryū. Neben Otsuka waren unter den ersten Schülern, die Funakoshi unterrichtete, auch Gima Makoto Shinkui und Konishi Yasuhiro, die sich beide später oftmals daran zurückerinnerten, wie improvisiert das Training zur damaligen Zeit war: Man trainierte in Gruppen von drei bis acht Schülern, trug keine besondere Trainingskleidung und übte ausschließlich nur kata. Trotz dieser wie Konishi erzählte, „elementaren Methode“, war es Funakoshi bereits nach einem Jahr gelungen, ungefähr zehn Schüler um sich zu versammeln, und er konnte endlich mit den lästigen Hilfsarbeiten aufhören. Der 1. September 1923 machte jedoch seine ganzen Mühen zunichte. Das große Kantō-Erdbeben, bei dem 100.000 Menschen getötet und fast ganz Tōkyō vernichtet wurde, zerstörte auch das Meiso-juku. Viele seiner Schüler starben oder wurden zumindest schwer verletzt, so dass der Meister das Training für einige Zeit aussetzen musste. Nun stand Funakoshi wieder ganz am Anfang. Er hatte weder ein Dach über dem Kopf, noch besaß er genügend Geld, um sich zu versorgen. Schließlich nahm er notgedrungen Arbeit in einer Fabrik an, in der er in Akkordarbeit Druckschablonen herstellte.
Als Hakudo Nakayama, der beste Kendō-Meister dieser Zeit, wenig später von Funakoshis Schwierigkeiten erfuhr, bot er ihm sofort an, in seinem dōjō zu trainieren bis er eine neue Bleibe gefunden habe. Voller Dankbarkeit nahm der Karate-Meister dieses Angebot an und schon nach kurzer Zeit unterrichtete er wieder eine größere Zahl von Schülern. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten war das okinawanische karate endlich bekannt geworden und Funakoshis Ruf verbreitete sich nach und nach in ganz Tōkyō. Schließlich wurde 1924 an der Keio-Universität der erste Karate-Club Tōkyōs eröffnet, dem schon kurz darauf mehrere andere Universitäten folgten (1926 die Ichiko-Universität und 1927 die Takushoku, Waseda, Hosei, Meiji, Nihon und Shodei Universitäten, die Medizinische Hochschule, die Kaiserliche Universität, die Wirtschaftshochschule und die Landwirtschaftshochschule). So war es dem Karate-Meister nach Jahren der Entbehrung endlich möglich, eine eigene Wohnung zu mieten und seinen Sohn Yoshitaka (Gigo) nach Japan nachreisen zu lassen.
Funakoshis Konflikt
Die neue Mentalität, mit der Funakoshi konfrontiert wurde, als er 1922 nach Japan kam, sollte ihn angesichts seines Karate in einen persönlichen Konflikt stoßen. Mit dem neu anbrechenden Zeitalter des Imperialismus und dem weltweiten Streben Japans nach Ansehen und militärischer Macht, wurden die alten Traditionen und Werte durch ein immer stärker werdendes Konsumdenken und ausgeprägten Nationalismus abgelöst. Auch die Kampfkünste blieben von diesem neuen Denken nicht verschont. Um sein Karate verbreiten zu können, musste Funakoshi viele der alten Lehren schweren Herzens verändern und anpassen. Bis zu jenem Zeitpunkt war es auf Okinawa verpönt, aus eigenen Auszügen aus dem Hauptsystem einen neuen Stil zu gründen, der dann eine Verbesserung gegenüber dem alten System darstellen sollte. Zwar vereinbarte das okinawanische Karate in sich so viele verschiedene Techniken und Prinzipien, dass es keinem einzelnen Menschen möglich war, sie alle zu beherrschen, doch war es möglich, sich aus dem Gesamtsystem bestimmte Schwerpunkte zu suchen und diese zu lehren (ohne gleich einen eigenen Stil zu gründen. Jede persönliche Auffassung blieb in ihrer Bedeutung den alten Inhalten des Hauptsytems untergeordnet, doch wurden neue und wertvolle Erkenntnisse ohne Schwierigkeiten vom Hauptsystem übernommen. Man unterschied das okinawanische Karate lediglich nach dem Gebiet, in dem die Meister wohnten (in shurite, tomarite und nahate). Meister Funakoshi hatte dreißig Jahre lang von Meistern des shurite und tomarite Unterricht erhalten und kannte daher den ungeheuren Umfang des okinawanischen Karate besser als jeder andere. Die Unantastbarkeit des Hauptsystems war ihm heilig und er dachte niemals daran, sich davon zu entfernen oder durch seine persönliche Ansicht zu ersetzen. Als er jedoch nach Japan kam, traf er auf jenes neue Denken, das die alten Lehren der okinawanischen Kampfkünste unmöglich machte. Im Gegenteil, man war gerade dabei, die Kampfkünste von ihren Inhalten zu trennen und als Konsumware anzubieten. Um die Massen jedoch für diesen neuen „Sport“ begeistern zu können, mussten die einzelnen Kampfkünste konkurrenzfähig, marktorientiert zurechtgeschnitten und einfach strukturiert sein. So musste der Karate-Meister gleich zu Beginn seiner Unterrichtszeit in Japan feststellen, dass das Karate wie er es gelernt hatte, diesen Anforderungen nicht gerecht wurde. Das gesundheitsfördernde Karate mit seinen Idealen wie er es unterrichtete war nicht spektakulär genug und stellte an die eigene Charakterbildung zu hohe Ansprüche.
Stattdessen sollte es den sportlichen Aspekt und den Wettbewerb verkörpern. Doch diese Umstrukturierung des Karate würde, dessen war sich Meister funakoshi sicher, einen Verlust der alten Inhalte bedeuten. Daher suchte er nach Möglichkeiten, die es ihm erlauben würden, die einstigen Lehren mit der neuen Mentalität zu verbinden. Nach langen inneren Kämpfen gestattete er schließlich, dass neben dem Unterricht der kata und deren Anwendungen noch andere Formen des Kämpfens in das Training eingeführt wurden. Auch übernahm der Karate-Meister ein Gürtelrangsystem, das von seinem langjährigen Freund Kanō Jigorō gegründet wurde, um die unterschiedlichen Fortschrittsstufen seiner Schüler äußerlich sichtbar zu machen. Doch in einem Punkt blieb der Meister unerbittlich: das freie Kumite (jiyu kumite) nach den Prinzipien des Wettkampfes war seinen Schülern strikt verboten. Immer wieder wies Funakoshi jeden, der ihn fragte, daraufhin, daß es nicht möglich sei, einen Karate-Wettkampf zu organisieren, da die verwendeten Techniken den Gegner bei einem Treffer töten würden. Für ihn war der freie Kampf als feste Trainingseinheit in der Realität völlig nutzlos, da in seiner Karate-Auffassung der Sieg durch die psychologische Beherrschung der Situation entschieden wurde und nicht durch die Übung des Kämpfens an sich. - Diese traditionelle Methode des Kampfes lebte und übte der Meister ohne Unterlaß. Zu jeder Tageszeit war er voller Wachsamkeit gegenüber möglichen Angriffen und regisitrierte instinktiv jede Bewegung in seiner Umgebung. Er achtete darauf, unübersichtliches Gelände zu umgehen, hielt sich immer den Rücken frei und machte um Ecken einen großen Bogen. Selbst beim Essen hielt er die Eßstäbchen so, dass er sie sofort als Waffe benutzen konnte, sollte ihn jemand attackieren. Unaufmerksamkeit, mangelnde Konzentration, provokatives Verhalten und Unsensibilität waren mitunter das Schlimmste, was sich ein Schüler leisten konnte.
Gründung des Shōtōkan
Der sich immer weiter verbreitende japanische Nationalismus hatte zur Folge, dass man immer öfter versuchte, neu eingeführte Errungenschaften als kulturelles Eigentum zu deklarieren. Man begann fremdländische Begriffe zu japanisieren, fremdländische Traditionen an die japanische Mentalität anzupassen und ungeeignete Inhalte auszumerzen. Diese Entwicklung machte auch vor den Kampfkünsten nicht halt. Fast alle der alten Karate-Kata trugen chinesische Namen und die Schriftzeichen für Karate selbst übersetzte man damals mit „chinesische Hand“ (kara - chinesisch, te – Hand). Angesichts der andauernden Neuerungen machte Chomo Hanashiro 1905 schließlich den Vorschlag, die Schriftzeichen für kara („chinesisch“) mit kara („leer“) zu ersetzen. Doch die okinawanische Meister waren sich uneinig, ob sie dieser Veränderung zustimmen sollten. Erst als Funakoshi Gichin 1935 in seinem neuen Buch Karate-dō Kyohan diesen Wechsel eigenmächtig vornahm, akzeptierte man die neue Schreibweise. Funakoshi selbst bestreitet, dass seine neue Version der Schriftzeichen eine Ursache des japanischen Nationalismus sei. Ganz im Gegenteil sollte die Interpretation von karate als „Leere Hand“ die Inhalte dieser Kampfkunst betonen: „leer von Selbsucht und schlechten Gedanken, leer wie der hohle Bambus, der trotzdem gerade, biegsam und unzerbrechlich ist und ohne Sein des Selbst, gleichbedeutend mit der Wahrheit des Universums“. Kurz nach diesen Neuerungen, die ohne Funakoshis Absicht später mit dazu führen sollten, dass das alte Erbe des okinawanischen karate verlorenging, war es dem Karate-Meister endlich möglich, 1936 ein richtiges Dojo zu eröffnen. Auf der Suche nach einem bezeichnenden Namen entschlossen sich die Schüler Funakoshis, das Dojo zu Ehren ihres Meisters „Shōtōkan“ zu taufen, da „Shōtō“ (Pinienrauschen) das Pseudonym ihres Lehrers war. Bald sprach man, wenn man Funakoshis Kampfkunst meinte, nur noch von „Shōtōkan-Karate“ und nur wenig später hatte sich die Bezeichnung shōtōkan ryū unter den Kampfkunstübenden Japans eingebürgert. Der Karate-Meister selbst jedoch weigerte sich, diese Kennzeichnung seiner Kampfkunst anzuerkennen, da es auf Okinawa gegen die Tradition verstieß, einen eigenen Stil zu gründen. Zwei Jahre, nachdem der Shōtōkan eröffnet wurde, war die Anzahl der Schüler bereits so sehr gestiegen, dass Funakoshi sich im Jahr 1938 gezwungen sah, seinen Sohn Yoshitaka in die Trainingsführung mit einzubeziehen. Schon vorher hatten verschiedene fortgeschrittene Schüler dem Karate-Meister im Training geholfen, doch nun wurde Yoshitaka offiziell zum Hauptübungsleiter erklärt und mit einem Großteil der Verantwortung versehen (Tatsächlich war er seinem Vater noch nicht einmal Rechenschaft darüber schuldig, was er im Shōtōkan lehrte und veränderte.).
Der Sohn des Meisters war ein paar Zentimeter größer als sein Vater, um einiges schwerer und ungeheuer stark. Auch war Yoshitaka technisch sehr talentiert und hatte offensichtlich ehe er von seinem Vater unterrichtet wurde, schon in Okinawa mit dem Karate-Training begonnen. Seine Schüler nannten ihn bald den „jungen Meister“, während Funakoshi selbst respektvoll als der „alte Meister“ gesehen wurde. Doch schon nach kurzer Zeit machten sich sowohl in der Trainingsführung als auch in der Lehre selbst zwischen den beiden Lehreren deutliche Unterschiede bemerkbar. Nachdem sein Vater 20 Jahre lang versucht hatte, Karate getreu nach den Prinzipien seines Lehrers Yasutsune Itosu zu unterrichten, führte Yoshitaka bei seinen Schülern eine sehr kampfbetonte Version des karate ein, die sehr den Prinzipien des matsumura ryūs Azatos ähnelte. Yoshitaka war damit der allgemeinen Mentalität gefolgt und hatte zugunsten der Verbreitung des Karate ein lang gehütetes okinawanisches Geheimnis an Japan preisgegeben. Tatsächlich hatte das japanische Militär mit der Eroberung der Mandschurai 1932 angefangen, alle Kampfkunstschulen nach ihrer Effizienz in der Selbstverteidigung zu beurteilen.
Der Butokukai hatte die Anweisung erhalten, Schulen, in denen keine „kriegstaugliche“ Kampfkunst unterrichtet wurde, nicht aufzunehmen und somit ihrer Legitimität zu berauben. Verständlicherweise befanden sich die japanischen Budō-Schulen dadurch in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf, in dem der größte Rivale das okinawanische Karate war, den man mit allen Mitteln versuchte loszuwerden. Hätte Yoshitaka das Karate des Shōtōkan zu diesem Zeitpunkt nicht schon abgeändert, wäre es gut möglich gewesen, dass der Butokukai das okinawanische Karate nicht akzeptiert und somit dem Untergang geweiht hätte. Von den Rivalitäten unter den Kampfkunstschulen Japans einmal ebgesehen, hatte Funakoshis Sohn ohnehin ein reges Interesse an den Atkivitäten des japanischen Militärs. In der Tat sollte Yoshitaka bis zu seinem Tod als inoffizieller Trainer von militärischen Eliteeinheiten, Kamikaze-Piloten und Spionagekommandos fungieren. Ohne das Wissen seines Vaters (nach Ansicht der meisten Geschichtsforscher, hatte Funakoshi tatsächlich keine Ahnung, wie sein Sohn hinter seinem Rücken die Ideale seines friedfertigen Karates mit Füßen trat) hatten Yoshitaka und Egami Shigeru, einer seiner besten Schüler, sich auf Anfragen des Militärs bereiterklärt in der Nakano-Schule - einer Einrichtung zur Ausbildung von Geheimdienstmitarbeitern, Guerillakämpfern und militärischen Spionen - die kämpferische Ausbildung der dortigen Soldaten zu übernehmen. Ehe das Militär sich entschieden hatte, das shōtōkan ryū in ihr Trainingsprogramm mit aufzunehmen, war es Ueshiba Morihei gewesen, der sein aikidō als Nahkampfunterricht verwendete. Doch konnten die Schüler trotz der eigenen Stärke ihres Lehrers keine der gelernten Prinzipien effektiv einsetzen, und so musste man sich nach einer anderen Kampfkunst umschauen. Als die Wahl schließlich, nachdem andere Karate-stile wie das goju ryū, wado ryū und shito ryū als nicht geeignet ausgeschieden waren, auf Yoshitakas Karate fiel, brachte das dem Shōtōkan einen neuen Aufschwung.
Yoshitaka und Egami hatten innerhalb kürzester Zeit ein damals hoch angesehenes Nahakmpfsystem für das Militär entwickelt und damit ihr Ansehen in der japanischen Bevölkerung unermesslich gesteigert. Heute verschweigt man diese dunkle Stelle in der Geschichte des Shōtōkan, doch war es in dieser Zeit, in der das Shōtōkan-Karate wie wir es heute kennen seinen Ursprung fand. Mit diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich zwischen den Idealen und Technikprinzipien von Vater und Sohn eine immer größer werdende Diskrepanz sichtbar machte. Nach der Einführung von Azatos Technikprinzipien in den Shōtōkan, hatte Yoshitaka schließlich auch damit begonnen, sein Karate Stück um Stück so zu verändern, dass man es ohne Schwierigkeiten zur militärischen Ausbildung von Soldaten verwenden konnte. Meister Funakoshi war selbstverständlich mit dem Karate seines Sohnes nicht einverstanden, doch immer mehr Schüler wollten von Yoshitkaka unterrichtet werden, und so musste der Meister diese Veränderungen wohl oder übel akzeptieren. Im Gegesatz zu Funakoshis Kata-Training, in dem nur selten freie Kämpfe gestattet waren, verwendete Yoshitaka - auch beeinflusst von der angespannten Atmossphäre der damaligen Vorkriegszeit - in seinem Unterricht den Kampf auf Leben und Tod (shinken shobu) als Basis für seine Techniken. Die friedfertigen Prinzipien der Verteidigung, wie sie Funakoshi lehrte, mussten aggressiven Angriffsmethoden weichen, in denen starke Fußtechniken eine große Rolle spielten. Die Stellungen Yoshitakas waren sehr viel tiefer und fester als die seines Vaters und suggerierten dem Gegenüber eine nahezu unerschütterliche Stärke. Selbst als Yoshitaka 1945 todkrank wurde und nicht mehr in der Lage war, das Training am Shōtōkan weiterzuführen, soll er sich gelegentlich doch immer wieder einen der fortgeschrittenen Schüler aus dem Training gegriffen haben, um gegen diesen zu kämpfen. Einige ältere Schwarzgurte des Shōtōkan erinnern sich, dass Yoshitaka diese Kämpfe immer mit offenen Händen bestritt und trotz seines geschwächten Zustands gefährliche Treffer landen konnte. Diese Auffassung sprach natürlich vor allem die neue Mentalität der jungen Japaner an und viele Schüler wechselten vom Vater zum Sohn. Doch Funakoshi hielt weiter an seiner Lehre fest und gestattete nur wenige Änderungen in seinem Trainingskonzept. Sein entschärftes karate, das die gesundheitlichen Aspekte und die Ausbildung zu menschlichen Idealen in den Vordergrund stellte und keine der alten okinawanischen Kampfkunstkonzepte unterrichtete, stieß bei den Anhängern des freien Kampfes immer mehr auf Missfallen. Ein damaliger Schüler des Shōtōkan, Oyama Masutatsu, äußerte sogar einmal voller Unmut in aller Öffentlichkeit: „Funakoshi ist nicht in der Lage, etwas anderes außer Gymnastik zu unterrichten“. Mit der Zeit fielen immer mehr Schüler von ihm ab und später musste man die jungen Karateka sogar dazu zwingen, an „langweiligen“ Trainings teilzunehmen, die nur aus der Übung der Kata bestanden. Bis zu seinem Tod war Funakoshi Gichin dennoch der festen Überzeugung, dass karate als Wettkampf und Sport seine Werte verlieren würde. Für ihn waren die Kampfkünste ein Weg, sich selbst zu verbessern und durften nur im absoluten Notfall angewendet werden. Doch veränderten sich durch Yoshitakas Betonung des Kampfes die Techniken des Karate allmählich und es entstanden Ideale und Prinzipien, die nur noch wenig mit Funakoshis ursprünglicher Lehre gemeinsam hatten.
Kriegsjahre
Seit 1938 hatte sich die Zahl von Yoshitakas Schülern immer weiter vergrößert und sein Karate wurde in ganz Japan geübt. Als sich Japan schließlich 1940 mit dem Angriff auf Pearl Harbour in den Zweiten Weltkrieg einmischte bekam der kämpferische Stil Yoshitakas nochmals erneuten Aufschwung. Viele damalige Schüler des Shōtōkan kamen einzig mit dem Hintergund zu Yoshitaka, um sich mit einer Ausbildung im Nahkampf eine größere Überlebenschance zu sichern. Suzuki Tatsuo, ein damaliger Schüler Yoshitakas, erzählt, dass der drohende Tod dazu beitrug, dem Training einen vollständig anderen Charakter zugeben. Der realistische Zweikampf nahm den größten Teil eines Trainings ein und fast alle Schüler erkannten instinktiv, dass zwischen dem technischen Sieg über einen Partner und das Überleben gegen einen Gegner Welten lagen. Gegen Ende des Krieges wurden sogar Frauen angewiesen, Karate zu lernen, damit sie nach der drohenden Niederlage die amerikanische Besatzungsmacht bekämpfen konnten Meister Funakoshi erzählte von diesen Tagen: „Oft hörte ich einen jungen Mann sagen, während er sich vor mir niederkniete: 'Sensei, ich wurde zum Militär gerufen und muß gehen, um meinem Land und meinem Kaiser zu dienen.' Jeden Tag hörte ich meine Schüler in dieser Weise reden. Sie hatten unermüdlich Tag für Tag Karate geübt. Viele taten es nur, um sich auf den Krieg vorzubereiten, und sie glaubten, sie wären bereit...Natürlich starben die meisten im Kampf - so viele, daß ich sie nicht mehr zählen konnte. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde brechen, als ich eine Nachricht nach der anderen bekam, die mir vom Tod so vieler vielversprechender junger Mäneer berichtete. Dann stand ich allein im Dojo, widmete der Seele der dahingegangenen ein Gebet und erinnerte mich an die Tage, an denen er so fleißig Karate geübt worden hat.“ Funakoshi sah diese Entwicklung als einen Verrat an der Lehre des Karate an, doch konnte er sie nicht mehr auffhalten und musste voller Enttäuschung mit ansehen, wie seine Kampfkunst allmählich verloren ging.
Als das Shōtōkan-Dōjō 1945 dann während eines Luftangriffs auf Tōkyō völlig zerstört wurde und kurz darauf Funakoshis Sohn Yoshitaka an Tuberkulose starb, war dies das vorläufige Ende der Shōtōkan-Bewegung. Die US-Streitkräfte hatten Tōkyō und Okinawa fast vollständig eingeäschert und kaum einer dachte noch daran, Karate zu üben. Schließlich beschloss Funakoshi, nach 23 Jahren der Trennung, Japan den Rücken und zu seiner Frau zurück zu kehren. Vor dem Angriff der Amerikaner auf Okinawa hatte man jedoch einen Großteil der dortigen Bevölkerung evakuiert und in Flüchtlingslager in verschiedenen Provinzen gebracht. Nach kurzer Suche fand Funakoshi seine Frau schließlich in einem Lager in Oite in der Provinz Kyushu und reiste ihr nach. Trotz Ende des Krieges war es den beiden nicht möglich in ihre Heimat zurückzukehren, und so mussten sie zusammen mit einigen weiteren Kriegsflüchtlingen ihr Leben in bitterster Armut fristen. Als jedoch 1947 auch noch Funakoshis Frau starb, wusste sich der Meister nicht anders zu helfen und kehrte nach Tōkyō, seiner einzigen Anlaufstelle, zurück. Bis 1948 lebte er völlig abgeschottet von der Außenwelt bei seinem ältesten Sohn Yoshihide. Die Beziehung zwischen den beiden war sehr kompliziert und obwohl Yoshihide schon lange vor seinem Vater nach Japan ausgewandert war, standen die beiden bis dahin kaum miteinander in Kontakt. Zwar hatte Yoshihide selbst auch Karate geübt und unterrichtete sogar eine Zeit lang am Shōtōkan, doch hatten sein schlechter Umgang und seine hohen Spielschulden dazu geführt, dass er sich mit seinem strengen Vater überwarf. Die Tatsache, dass sich sein Sohn immer wieder das Geld seiner Schüler lieh und es nie zurückzahlte, brachte soviel Unruhe in den Shōtōkan, dass Funakoshi sich gezwungen sah, ein ernstes Wort mit Yoshihide zu sprechen. Schon nach einem Jahr hatte der Idealismus des Meisters jedoch über die erfahrenen Verluste gesiegt und Funakoshi begann wieder an den Universitäten von Keijo und Waseda zu unterrichten. Dort hatten einige Übungsleiter (Egami, Hironishi und Noguchi) des ehemaligen Shōtōkan eine größere Gruppe von Schülern versammelt und lehrten Yoshitakas karate. Erneut war die Diskrepanz zwischen Funakoshis und Yoshitakas Lehre deutlich zu sehen. Nur wenige Schüler nahmen freiwillig an den Trainingen des alten Meisters teil, und hätte man dieses Training nicht als Pflichtübung für die nächste Gürtelprüfung angesetzt, hätte Funakoshi bald keine Schüler mehr gehabt. Doch trotz dieser Tatsache war Funakoshi Gichin immer noch der bedeutendste und anerkannteste Karate-Meister jener Zeit.
Bei einer großen Budō-Gala in Tōkyō 1954, erhielt der 86jährige Funakoshi nach seiner Karate-Demonstration stehende Ovationen. Dennoch war Meister Funakoshis karate zu diesem Zeitpunkt schon ohne echte Erben. Noch zu seinen Lebzeiten gab es keinen Schüler, der sich an die alten Prinzipien seines Meisters hielt. Statt dessen waren nach dem Krieg an den Universitäten, an denen Funakoshi unterrichtet hatte, viele Splittergruppen des Shōtōkan entstanden, die sich gegenseitig bekämpften und als alleinige Erben des Karate-Meisters bezeichneten. Meister Nango schrieb über dieses Desaster in seinem Buch: „Meister Funakoshi hinterließ das Shotokan ryu, doch seltsam daran ist, daß keiner in diesem Stil die Technik korrekt weitergegeben hat - wahrhaftig keiner. Am Ende von Meister Funakoshis Leben hatten seine Schüler alle Techniken verändert. Sein gesamtes Karate ist verändert worden, als wäre sein eigener Eindruck verschwunden. Alles was blieb, ist der Name Shotokan und die Namen, die er den alten Kata gab...Ich kann mir die Traurigkeit vorstellen, die er am Ende seines Lebens empfunden haben muß, als er sah, daß die Techniken, die er so lange Zeit hindurch weitergeben wollte, verloren war.“
Funakoshi und die JKA
Im Jahr 1946 kehrte Masatoshi Nakayama, ein Schüler der dritten Generation von Meister Funakoshi, aus China zurück. Er hatte in der Mandschurai für die Regierung gearbeitet und sich zusätzlich mit den chinesischen Kampfkünsten (Kempo) beschäftigt. Bei seiner Ankunft in Japan musste er feststellen, dass das Shōtōkan-Karate wie er es kannte, durch den Einfluss Yoshitaka Funakoshis bedeutende Veränderungen erfahren hatte, und er begann unter Minoru Miyata, einem Schüler Yoshitakas, das neue Konzept zu erlernen. Schon nach kurzer Zeit startete Nakayama an der Takushoku-Universität den Versuch, karate als Wettkampfsport tauglich zu machen. Er begeisterte einige Meister des Shōtōkan, unter anderem Hidetaka Nishiyama und Isao Obata, für seinen Plan und gründete schließlich 1949 die Japan Karate Association (JKA). Mit Hilfe dieser Organisation wollten die Meister ein Konzept ausarbeiten, mit dem Karate-Wettkämpfe abgehalten und die verschiedenen Gruppen des Shōtōkan an den Universitäten vereint werden konnten. Als man jedoch beschloss, dass Karate nicht mehr unentgeltlich unterrichtet werden sollte, verließen viele Meister die JKA und suchten bei Egami Shigeru an der Waseda-Universität Unterstützung. Der Altmeister war mit den Plänen Nakayamas von Anfang an nicht einverstanden und kritisierte immer wieder die Verbandsmentalität und das Machtstreben der JKA. Als Nakayama Funakoshi 1949 um Zustimmung zu seinen Wettkampfregeln bat, verweigerte der Meister diese und wies darauf hin, dass diese Veränderungen die alten Inhalte des Karate endgültig zerstören würden. Doch für die JKA war Funakoshi nur noch ein alter wehrloser Mann, dessen guten Ruf man zu eigennützigen Zwecken missbrauchen konnte, und so überhörten sie die Warnung des Karate-Meisters. Schließlich isolierte man alle Karate-Schulen um Funakoshi Gichin und Shigeru Egami, die sich weiterhin weigerten, Mitglied in der JKA zu werden und erteilte ihnen an allen JKA angeschlossenen Schulen Trainingsverbot. Funakoshi selbst wurde - da sein Name in der Karate-Welt immer noch von Bedeutung und daher werbeträchtig war - ohne seine Zustimmung zum Ehrenausbilder ernannt, und man verwendete weiterhin die Bezeichnung Shōtōkan-Karate. Mit diesen letzten Schritten hatte man das alte okinawanische Karate, wie es Funakoshi gelehrt hatte, endgültig aus der offiziellen Karate-Welt verbannt.
Funakoshis Lehre
Obwohl Funakoshi Gichin eigentlich von Meister Azatō unterrichtet wurde und bei Meister Itosu nur Gastschüler war, prägte doch Itosu den größten Teil seines karate. Selbst in den kata, die Funakoshi später unterrichtete, ist der Einfluss Azatōs nur schwer wieder zu finden. Statt dessen ließ der Meister in seinem Unterricht sowohl die Itosu-Versionen der naihanchi, passai, chintō, jion und jitte als auch die von Itosu gegründeten Pinan-Kata üben. Auch die kämpferischen Prinzipien Azatos matsumura ryūs wurden nie offiziell verwendet. Und doch betonte Funakoshi immer wieder, dass „der größte Teil meines Wissens über Karate auf dem Unterricht beruht, den ich von Azato erhielt.“ Bis zu seinem Tod lehrte Funakoshi Gichin getreu nach den Prinzipien von Itosus shurite. Der Unterricht des Meisters basierte im wesentlichen auf der Übung von 15 kata, deren Studium (bunkai), Anwendung (ōyō) und dem Training in der Grundschule (kihon) und am makiwara. Den Wettkampf lehnte er von Anfang an ab, da er seiner Meinung nach die Werte des karate verriet und im klaren Gegensatz zu seiner Lehre stand: „Im Karate gibt es keinen ersten Angriff“ (karate ni sente nashi). Vor allem das bogu kumite - ein Vollkontakt-Kampf, bei dem Schutzkleidung verwendet wurde - war Funakoshi verhasst, da es einen vollkommenen Wertverlust der Techniken und gleichzeitig der geistigen Aspekte des Karate zur Folge hatte. Ichizo Otake, ein Schüler Funakoshis, erzählte einmal: „Eines Tages habe ich den Zorn des Meisters erregt. Zu jener Zeit begann ich mit einigen Schülern, Karate mit Schutzausrüstung zu üben. Meine Kollegen erzählten mir, daß Meister Funakoshi darüber sehr wütend war und vorhatte, uns aus seinem Dôjô auszuschließen. Ich suchte ihn auf, und als ich ihn daraufhin ansprach, sagte er ganz ruhig: 'Ich bin nicht überrascht, daß gerade du mit der Kata unzufrieden bist. Dies ist so, weil du keine Selbstdisziplin besitzt. Im Karate bezeichnet der Kampf - wie in allen Budō-Disziplinen - einen Kampf auf Leben und Tod (Shinken-shobu). Das Boxen ist als Sport gedacht und führt zu einem anderen Ergebnis. Wenn ihr mit Schutzausrüstungen übt, wird Karate zum Wettkampf, und ein Weg ist nicht mehr möglich.' Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: 'Ich denke, daß auch die Übung mit Schutzausrüstung ihre guten Seiten hat und daß es sich lohnt, sie zu studieren. Wenn es das ist, was du willst, dann gehe zum Kempô in die Todai. Doch verwechsle diese Methode nicht mit Karate.' Erst viel später verstand ich, was Meister Funakoshi damit meinte.“ Neben der rein körperlichen Ausbildung spielte in der traditionellen Lehre Funakoshis auch das Streben nach menschlichen Idealen eine große Rolle. Viele seiner Schüler verließen ihn, weil sie mit Funakoshis Kritik an ihrer Person nicht zurecht kamen und in der Entwicklung eines feinen Charakters keinen Sinn sahen. Statt ihrer Übung einen Sinn zu geben, um auch geistige Werte zu erziehen, strebten viele nach persönlichem Ruhm und Prestige.
Die traditionelle Lehre hito kata sannen (mindestens drei Jahre für eine Kata) unter der Funakoshi selbst noch trainierte war für den Karate-Meister in Japan nicht mehr möglich in die Tat umzusetzen, da das Karate zunehmend als Sport und nicht mehr als persönlicher Lebensweg betrachtet wurde. Eine kata zu studieren und mit ihr das Verständnis für die eigene Technik zu vertiefen, war geradezu verpönt. Bereits 1922 schrieb Funakoshi dazu in seinem Buch Ryukyu kempo Karate: „Die alten Meister hatten nur ein kleines Feld, doch sie pflügten tiefe Furchen. Heutige Schüler haben ein großes Feld, doch sie pflügen flache Furchen.“ Schon zu Beginn seines Unterrichts in Japan war sich der Karatemeister bewusst, dass die alten Lehren dieser Kampfkunst wie sie jahrhundertelang überliefert wurde nicht übertragen werden können. Dennoch versuchte er sein ganzes Leben, Karate als Weg (dō) zu unterrichten und seinen unschätzbaren Wert an einen würdigen Erben weiterzugeben. Im Laufe der Jahre stellte er 20 Leitsätze auf, die sogenannte shōtō nijūkun, die seinen Schülern als Richtlinien und Hilfe für die Übung dieses Weges dienen sollten und die Ideale des Karate in kurze Worte fasste:
Funakoshis Bücher
Meister Funakoshi hatte sich schon früh entschlossen, seine Lehren in Büchern zu veröffentlichen, um sie der ganzen Kampfkunstwelt zugänglich zu machen. Insgesamt schrieb er fünf Bücher und bis auf eines befassen sich alle ausschließlich mit der technischen Seite des Karate. Bereits 1922, kurz nachdem Funakoshi nach Japan gezogen war, konnte der Meister mit Hilfe einiger Anhänger sein erstes Buch veröffentlichen. Es trug den Titel „Ryukyu Kempo Karate“, hatte etwa 300 Seiten und enthielt im Wesentlichen eine Beschreibung der 15 Karate-Kata Funakoshis. Das Interessante an diesem Buch waren die zahlreichen Vorworte verschiedener bedeutender Persönlichkeiten Japans, die sich über die Vorteile dieser neuen Kampfkunst aus Okinawa äußerten. Leider waren die Abbildungen der einzelnen Techniken nur undeutlich gezeichnet und daher nicht verwertbar. Doch schon allein die Tatsache, dass es das erste japanische Buch war, das über Karate veröffentlicht wurde, machte es zur begehrten Literatur. Unglücklicherweise wurden die Druckplatten bei dem großen Erdbeben 1923 zerstört, so dass diese Ausgabe nie wieder aufgelegt werden konnte. Aus diesem Grund präsentierte Funakoshi schon wenig später (1925) eine überarbeitete Version seines Werkes unter dem Titel „Rentan Goshin Karate Jutsu“. Auch diese Neuauflage beschäftigt sich – von einigen Erläuterungen zu Würfen abgesehen – fast ausschließlich mit den 15 Kata des Shōtōkan-Karate. Doch waren die Illustrationen und Fotos der einzelnen Techniken von viel besserer Qualität als drei Jahre zuvor, und auch Funakoshi hatte in dieser Zeit sein Karate verfeinert. Seine Techniken waren viel natürlicher und der Meister hatte eine Ausstrahlung entwickelt, die selbst auf den Fotos noch wirkte. 1935 veröffentlichte Funakoshi dann ein Buch, das allgemein für etwas Aufregung sorgte: „Karate-dō Kyohan“. Der Meister hatte die Schriftzeichen für Karate so verändert, dass sie nun nicht mehr mit „chinesische Hand“, sondern mit „leere Hand“ übersetzt werden mussten. Viele Kampfkunstmeister standen diesem Austausch skeptisch gegenüber, aber es dauerte nicht lange, bis diese Schriftzeichen als allgemeiner Standard akzeptiert wurden. Auch der Inhalt des Buches selbst zeigte einige Veränderungen auf. Obwohl die Bücher von Meister Funakoshi immer die 15 Shōtōkan-Kata getreu ihres Ursprungs zeigten, während sein Sohn sie im Laufe der Zeit immer mehr veränderte, bewirkten diese Neuerungen Yoshitakas auch bei dem Karate-Meister selbst eine Entwicklung.
So beinhaltete sein Werk neben den Erläuterungen zu den 15 Kata dieses Mal auch einige Techniken und Beschreibungen zur Selbstverteidigung gegen Schwert, Messer und Stock aus einer sitzenden Position und Beispiele für abgesprochene Kumite-Kombinationen. Die zweite Auflage dieses Buches sollte erst 1958, ein Jahr nach dem Tod des Meisters erscheinen. Da Funakoshi damals schon zu alt war, um die einzelnen Bewegungen der kata zu demonstrieren, ist fast auf allen Bildern der Schüler seines Sohnes, Shigeru Egami zu sehen. Bei einem Vergleich der Abbildungen in den anderen Büchern des Meisters, wird die große Diskrepanz zwischen Funakoshis Shōtōkan-Karate und dem shōtōkan ryū wie wir ihn heute kennen klar ersichtlich. Die Techniken des Meisters waren alle viel kürzer, die Stellungen um einiges höher und die Hüft- sowie Beinbewegungen weniger ausgeprägt als es bei Egami der Fall war, der fast vollständig das Karate Yoshitakas übte. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte Funakoshi noch eine Autobiographie mit dem Titel „Karate-dō Ichi-rō“, doch sind viele Geschichten und Fakten die der Meister nennt, entweder falsch oder ungenau, was wohl auf sein Alter und schlechtes Erinnerungsvermögen zurückzuführen ist. Das letzte Buch von Funakoshi Gichin „Karate-dō Nyumon“ stammt nicht von dem Meister selbst, sondern wurde von seinen Schülern aus seinem Nachlass zusammengestellt und zu Ehren ihres Lehrers veröffentlicht.